Syrien war so vielfältig – wohin sind sie alle gekommen, die Angehörigen verschiedener Ethnien und Religionen? Sind sie mit den Flüchtlingstreks nach Europa gekommen, oder eher im Libanon oder der Türkei bzw. Jordanien geblieben; oder irren sie noch im zerstückelten Syrien umher? Jedenfalls gab es ein Gerücht, dass die türkischen Lagerwärter Muslime bevorzugt haben, wenn es auf den Weg nach Europa ging. Und ein Faktum gab es auch: bei der Überfahrt über das Mittelmeer war ein Boot – wie viele andere auch – überfüllt. Es wurde nach der Religion gefragt und die Christen wurden überbord geworfen … Auf dem Weg ins „christliche Europa“! Aber das war hoffentlich nur ein Einzelfall. Er hat mich aber sehr betroffen gemacht.
Wenn die geflohenen Menschen endlich hier angekommen sind, hat sie jemand nach ihrer Ethnie, nach der Religion gefragt? Wahrscheinlich kaum, die Registrierung umfasst derartige Fragen nicht. Manche Klöster und Kirchen hätten bei der Unterbringung von Flüchtlingen Christen bevorzugt, aber diesem Wunsch wurde meist nicht stattgegeben.
Ethnien im früher friedlichen Syrien
Welche Ethnien gab es im noch friedlichen Syrien?
Die Mehrheitsbevölkerung in Syrien bildeten mit rund 90 Prozent die Araber, sie können Muslime – die meisten von ihnen Sunniten – oder Christen sein.
Die zweitgrößte Volksgruppe mit eigener Sprache sind die Kurden. Im Jahr 1979 wurde ihr Anteil auf etwa neun Prozent der Gesamtbevölkerung geschätzt. Dann stellten die Kurden gemeinsam mit den Armeniern und Angehörigen anderer ethnischer Gruppen etwa zehn Prozent des Gesamtbevölkerung Syriens dar. Viele Kurden kamen zwischen 1924 und 1938 aus der Türkei ins Land, als es dort zu mehreren Aufständen der Kurden gegen ihre politische und wirtschaftliche Diskriminierung kam, die vom türkischen Militär niedergeschlagen wurden. Ein kurdischer Siedlungsschwerpunkt liegt entlang der türkischen Grenze. Knapp die Hälfte der syrischen Kurden lebt in der Region nordwestlich von Aleppo. Sie stellen dort und im Nordosten die Mehrheit. Aufgrund hoher Arbeitslosigkeit in den ländlichen Bergregionen siedelten sich viele Kurden in den Großstädten Aleppo und Damaskus an. 10 bis 15 Prozent der Kurden lebten in einem Stadtteil von Damaskus.
Die meisten Armenier kamen als Flüchtlinge zwischen 1925 und 1945 aus der Türkei nach Syrien. Sie lebten zu etwa Dreiviertel in Aleppo und zu knapp 20 Prozent in Damaskus. Armenier gehören überwiegend der Armenischen Apostolischen Kirche an, andere sind armenisch-katholisch. Die meisten sind in Handel, Kleinindustrie und Handwerk wirtschaftlich erfolgreich. In den Städten gab es verschiedene „Viertel“, in denen die Mitglieder von Ethnien oder Religionsgemeinschaften zusammen lebten.
Die meist sunnitischen Turkmenen waren traditionell halbnomadische Viehzüchter sowie Ackerbauern um Aleppo. Sie haben sich weitgehend in der arabischen Gesellschaft assimiliert. Turkmenen leben aber auch in Irak und Jordanien.
Tscherkessen, ebenfalls Sunniten, wurden Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Kaukasus vertrieben und siedelten sich besonders um Quneitra an, wo sie sich auf den Anbau von Getreide und daneben Viehzucht spezialisiert haben. Für das Jahr 1979 wurde ihre Zahl auf 55.000 geschätzt. Da viele von ihnen während der französischen Kolonialzeit in der französischen Armee gedient hatten, wurden sie lange Zeit von den Arabern argwöhnisch beobachtet.
Die Aramäer und Assyrer gehören einer der christlichen Religionsgemeinschaften an, mehrheitlich der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien. Assyrer im engeren Sinn gehören zu den nestorianischen Christen. Viele flohen 1933 bis 1936 vor der Verfolgung aus dem Irak und wurden von den Franzosen und mit Unterstützung des Völkerbundes angesiedelt. Bis in die 1970er Jahre hatten sie auf bewässertem Land in der Umgebung etwa 20 Dörfer gegründet. Wegen der wirtschaftlich schwierigen Lage sind viele emigriert.
Daneben gibt es etwa 476.000 (2002) palästinensische Flüchtlinge und seit dem Irakkrieg 200.000 (2009) Flüchtlinge aus dem Irak. Unter den Irakern sind viele Assyrer.
Besonders traurig ist, dass die Mehrzahl der ethnischen Minderheiten in Syrien vor wenigen Generationen selbst Flüchtlinge waren, die in diesem damals toleranten Land eine neue Heimat gefunden hatten.
Religionszugehörigkeiten
Muslime
Etwa 74 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische Muslime; die Alawiten (Nusairier) machen etwa 12 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Von den Osmanen wurden sie als Nichtmuslime gesehen und mit hohen Steuern belegt. Alawiten lebten bis Mitte des 20. Jahrhunderts als Kleinbauern zurückgezogen in Bergdörfern, die teilweise miteinander verfeindet waren. Viele Militäroffiziere und ein großer Teil der herrschenden politischen Elite entstammen heute der alawitischen Religionsgemeinschaft, der auch die Familie al-Assad angehört. Schiiten sind mit zwei Prozent in Syrien eine kleine, wenig einflussreiche Minderheit, meist in Damaskus. Die Ismailiten (etwa ein Prozent) flüchteten nach dem Mongoleneinfall im 13. Jahrhundert in Rückzugsgebiete auf dem Dschebel Ansariye, von wo sie erst Ende des 19. Jahrhunderts in ihr ursprüngliches Zentrum Salamiyya am Rande der syrischen Wüste zurückkehren durften.
Christen
Etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind Christen verschiedener Konfessionen; 1920 waren es noch 30 Prozent. Das zeigt, dass es Christenverfolgungen schon lange gegeben hat. Christen lebten im Raum Damaskus, Homs und Aleppo traditionell in ihren Dörfern. Genau das sind die in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen immer wieder umkämpften Regionen. Die Melkitischen Kirchen bildeten eine der größten christlichen Gemeinschaften, die hauptsächlich im Landesinneren leben, ihr Patriarch residierte in Damaskus. Andere bekennen sich zur Armenischen Apostolischen Kirche und der mit Rom unierten Syrisch-Katholischen und Griechisch-Katholischen Kirche. Große syrisch-orthodoxe Gemeinden trifft man im Nordosten Syriens. Gläubige der Assyrischen Kirche des Ostens, auch Apostolische Kirche des Ostens genannt, zählen etwa 30.000 und leben hauptsächlich im Nordosten, wo auch die Chaldäische Kirche existierte. Das Oberhaupt der Chaldäischen Christen ist Bischof von Aleppo. Rund 14.000 bekannten sich in Syrien zu dieser Konfession. Maroniten bildeten etwas über zwei Prozent, rund 424.000. Daneben existierten noch verschiedene protestantische sowie römisch-katholische Gemeinden. Viele syrische Christen wanderten in den Libanon, nach Schweden und in die USA aus. Dorthin versuchten auch die jetzt Verfolgten zu ihnen zu gelangen. Einige führende panarabische Nationalisten waren christlicher Abstammung, wie etwa der Begründer der Baath-Partei Michel Aflaq.
Obwohl es in der Geschichte ein paar Mal zu interkonfessionellen Auseinandersetzungen kam, wie zum Beispiel im Jahr 1860 in Damaskus, war das Zusammenleben vorwiegend friedlich geprägt. Der bedeutendste syrische Imam predigte, dass Muslime, Christen und Juden Brüder seien und man als guter Muslim Christen und Juden auch als seine Brüder behandeln solle.
Drusen, Jesiden und Juden
Die schiitische Abspaltung der Drusen machen etwa zwei Prozent der syrischen Bevölkerung aus. Ihr Hauptsiedlungsgebiet ist die Bergregion, der Dschebel ad-Duruz.
Die Jesiden werden meist den Kurden zugerechnet. Diese religiöse Minderheit aus einigen Tausend Mitgliedern lebt in den Bergen zwischen Aleppo und Afrin und in Dörfern im äußersten Nordosten.
Die wenigen noch in Syrien verbliebenen Juden leben in Aleppo und Damaskus. Im Jahr 1943 wurde ihre Zahl auf 43.000 geschätzt, im Jahr 1978 noch auf etwa 4500. Die meisten wurden nach Mitte des 20. Jahrhunderts nach Israel vertrieben, einige flohen über den Umweg Beirut. Es gab Ausschreitungen gegen die jüdische Minderheit, so etwa das Pogrom von Aleppo im Jahr 1947 oder den Angriff auf die Menarscha-Synagoge im Jahr 1949. In der Sprache und in der Kleidung unterscheiden sich die jüdischen Syrer nicht von den Muslimen.
Gibt es überhaupt noch ethnische und religiöse Minderheiten in Syrien?
Minderheiten wie Christen, Jesiden, Kurden, Chaldäer, Drusen, Assyrer und andere konnten unter der Herrschaft von Bashar Al-Assad verhältnismäßig ungestört leben, sie haben Religionsfreiheit genossen und teilweise auch hohe Ämter im Staat bekleidet. Nun besteht die Gefahr, dass ein zukünftiges Waffenstillstandsabkommen, das ohne Teilnahme dieser Minderheiten ausverhandelt wird, die Lebensumstände für ethnische und religiöse Minderheiten in Syrien negativ verschärft.
Es ist schlichtweg unrealistisch, dass Rebellen- und Oppositionsgruppen, die bisher Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppen massenweise ermordeten, nach einer Machtübernahme mit Minderheiten – so sie überhaupt noch im Land sind – besser verfahren würden.
Wir, die wir mit vielen Flüchtlingen konfrontiert sind, sollten sie auch nach ihren Ethnien und ihrer Religionszugehörigkeit fragen. Es wäre ein Schritt in die Integration auch hier bei uns.