Selbstmordattentate gibt es derzeit in vielen Teilen der Welt, manche erfahren viel Publizität, andere eher gar keine. Wahrscheinlich wird hauptsächlich von denen berichtet, die viele Europäer hätten betreffen können. So ein Ereignis ist jenes, das sich am Flughafen Atatürk dieser Tage ereignete. Andere Attentate finden sich bestenfalls als Randnotizen in Zeitungen. Dabei sind sie gar nicht so lange her: Dutzende Männer warten morgens vor einer Kaserne. Sie wollen sich um eine Ausbildung in der jemenitischen Armee bewerben. Inmitten der Menge zündet ein Attentäter Mitte Juni 2016 seine Bombe – mit verheerenden Folgen.
Das erste vierköpfige Selbstmordkommando kam vor der Dämmerung in das Dorf Al-Kaa im Libanon, nur wenige Kilometer von Syriens Grenze entfernt. Einer nach dem anderen zündete den Sprengstoffgürtel. Fünf Dorfbewohner starben, knapp 20 wurden verletzt. Spätnachts brach die zweite Terrorwelle über den Ort herein: Wieder kamen vier Selbstmordattentäter, von denen sich mindestens einer vor der Kirche in die Luft sprengte, dort also, wo die Dorfbewohner die Bestattung der Opfer vorbereiteten. Diesmal gab es Verletzte, aber keine Toten wie Stunden zuvor.
Der Anschlagsort Al-Kaa liegt in der Bekaa-Hochebene, dort also, wo Hunderttausende Syrer in Zeltlagern und Rohbauten gestrandet sind. Mindestens vier der acht Selbstmordattentäter waren Syrer. Die Dschihadisten seien aber direkt über die Grenze gekommen und nicht aus den Flüchtlingslagern. Der Angriff droht dennoch die bereits bestehenden Spannungen zwischen Syrern und Lokalbevölkerung zu verstärken.
Der griechisch-melkitische Erzbischof von Baalbek betonte während der Trauermesse für die Getöteten, dass die Christen trotz der fortwährenden Attentate weiterhin in der Region präsent sein würden.
Der Libanon galt vor dem Bürgerkrieg dort als „die Schweiz des Nahen Ostens“; dort herrschten Eleganz und Luxus, gemischt mit der Exotik Arabiens. Dorthin zog es die Potentaten der umgebenden Staaten, es herrschte ein angenehmes Klima wettermäßig, aber auch politisch, und im Casino de Liban konnte man sich prächtig unterhalten, oder den Sonnenuntergang in Byblos bewundern. Man konnte Baalbek in der Bekaa Hochebene bestaunen, mit dem Taxi nach Damaskus fahren, einen Ausflug nach Palmyra machen oder der Phönizier in Tyros oder Sidon gedenken. Im Libanon Gebirge war Schifahren populär.
Dann kam es zum ersten Bürgerkrieg, er dauerte von der Mitte der 1970er Jahre bis 1990. Es gab in diesem Bürgerkrieg keine Fraktion, die während der langen Dauer nicht mit bzw. gegen jede der anderen Fraktionen gekämpft hatte. Von außen gab es rege Einmischung, sei es von Israel oder Syrien, aber auch von Frankreich und den USA. Die Gräueltaten sind hinlänglich bekannt, sie gipfelten im Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila im Jahr 1982, eine Aktion von libanesischen, maronitisch-katholischen – hauptsächlich phalangistischen – Milizen, die gegen palästinensische Flüchtlinge gerichtet war. Das Lager waren zu jener Zeit von israelischen Soldaten umstellt. Erst das Abkommen von Taif schuf 1989 die Grundlage für die Beendigung des Bürgerkrieges. Er forderte 90.000 Todesopfer, 115.000 Verletzte und 20.000 Vermisste. 800.000 Menschen flohen ins Ausland. Mit dem syrisch-libanesischen Vertrag vom Mai 1991 konnte Syrien seine Funktion als Ordnungsmacht (Besatzungsmacht) im Libanon festigen.
2005 folgte die so genannten Zedernrevolution. Eine breite oppositionelle Bewegung aus hauptsächlich Christen, Drusen und Sunniten forderte vehement den Rückzug der syrischen Truppen. Auch die USA und Frankreich übten immer mehr Druck auf Syrien aus. Syrien verständigte sich mit dem Libanon, seine Truppen nach und nach zurückzuziehen.
Aber schon bald kam es zum sogenannte zweiten Libanonkrieg. 2006 führte Israel einen Krieg gegen die Hisbollah im Libanon, nachdem diese zwei israelische Soldaten im israelisch-libanesischen Grenzgebiet gefangen genommen hatte. Die Hisbollah reagierte mit von libanesischem Territorium abgefeuerten Raketen auf Ziele im Norden Israels. Die israelischen Luftangriffe und Bodenoffensiven verursachten massive Zerstörungen in den südlichen Landesteilen, südlichen Teilen Beiruts und auch vereinzelten Zielen im Norden des Landes. Bei dem Krieg starben über 1100 Libanesen, davon die Mehrheit Zivilisten. Der Süden des Libanon ist seit Ende der Kampfhandlungen der internationalen Friedenstruppe UNIFIL und der libanesischen Armee unterstellt.
Der Libanon hat ungefähr 5,88 Millionen Einwohner (Stand Juli 2014, geschätzt). Davon sind etwa 95% arabischer, 4% armenischer, 1% anderer Abstammung. Im Land verteilt leben zudem kurdische, 408.438 bei UNRWA registrierte palästinensische sowie irakische und syrische Flüchtlinge. Es gibt im Libanon 18 anerkannte Religionsgemeinschaften, die größten davon sind maronitische Christen, schiitische und sunnitische Muslime. Daneben gibt es Drusen, weitere Christen, alawitische Muslime, und wenige Juden. Man toleriert einander.
Der Kleinstaat Libanon ist überfordert. Seit mehr als zwei Jahren kann man sich nicht auf einen Präsidenten einigen, und im Syrien-Krieg ist das Land gespalten. Die schiitische Hisbollah-Miliz kämpft an der Seite des alawitischen Assad-Regimes, die Sunniten unterstützen mehrheitlich die Rebellen. Die Christen, die auf keiner Seite stehen, werden von allen Seiten bedroht. Hinzu kommt die Flüchtlingskrise, die das Land an seine Kapazitätsgrenze treibt: Mehr als eine Million Syrer hat der Libanon aufgenommen, der flächenmäßig so groß wie Oberösterreich ist. Ein Viertel der derzeitigen Bevölkerung besteht aus Flüchtlingen.
Und nun wurden die Christen im Dorf Al-Kaa gemetzelt. Eine Randnotiz!