Oh Europa!

Europa wird auseinanderbrechen, hört man allenthalben. Trump bedroht Europa. Theresa May wird alles tun, um andere Staaten zum Austritt zu bewegen. Wenn Wilders, Le Pen die anstehenden Wahlen gewinnen, werden in den Niederlanden und Frankreich Austritts-Abstimmungen stattfinden. Putin ist die EU sowieso ein Gräuel und er wird alles tun, um sie zu spalten und zu zerstören.

Das sind grandiose Aussichten – muss es wirklich soweit kommen? Werden alle Errungenschaften in der EU rückgängig gemacht werden, der freie Personenverkehr (schon etwas eingeschränkt), der freie Warenverkehr, der offenen Arbeitsmarkt (an dessen Grenzen wird ohnedies auch schon gerüttelt), die gemeinsame Währung (schon möchten manche wieder zurück Drachme, Lira, dem Franc)? Wird es keine Erasmus-Stipendien mehr geben, wird die Agrarförderung wieder nationale Angelegenheit? Werden wieder Zölle auf Waren eingehoben werden? Wird der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Zusammenbrechen?  Wird jedes Land wieder einzeln seine Handelsverträge abschließen müssen.

Und vor allem: werden alle die derzeit noch 28 Länder (nach dem Brexit) nur mehr 27 in Frieden miteinander leben können?

Ich bin Optimistin, ich meine, dass Europa überleben wird, wenn auch in veränderter Form. Selbst der Brexit wäre reversibel, meldet sich nun Tony Blair zu Wort. Aber vom Brexit, der der viele von uns so geschockt hat, ging das Signal aus, dass die europäische Identität nicht mehr nur eine schön klingende Losung ist. Sie ist Realität geworden. Viele von uns hatten geglaubt, , dass das einige Europa eine ewige Gegebenheit ist, der nichts mehr droht, der Brexit war und ist uns allen eine Warnung. Doch was als Kohle- und Stahlprojekt in den fünfziger Jahren begonnen hatte, ist in den Köpfen der jungen Generation  zu etwas ganz anderem gewachsen. Diese sind wenig an Kohle und Stahl und Milch und Wurst interessiert, sie begreifen Europa nicht nur als Raum ihrer Sicherheit, sondern auch ihrer Werte, Regeln und Freiheiten. Und wenn wir Alten vom Friedensprojekt Europa reden, ist das für sie uninteressant, denn sie kennen keinen Krieg.

Für uns, die wir innerhalb der EU leben, ist sie eine Selbstverständlichkeit, für Menschen jenseits der EU-Grenzen indes hat sie eine andere Bedeutung. Während der Revolution auf dem Majdan in Kiew – wurde das beeindruckend gezeigt. Ohne das reale Europa zu kennen, haben die Ukrainer für die Idee dieses Europas gekämpft, das für sie Menschenwürde verkörpert, den Dienst der Staatsmacht am Menschen (und nicht umgekehrt), eine saubere Justiz, eine Politik, die nicht korrupt ist. Vielleicht sehen und begreifen wir EU-Europäer nicht mehr, wie das heutige Europa auf den Rest der Welt wirkt. Für manche ist es ihr Rückhalt, für manche Richtung und Traum.

Aber es gibt sie, die Europäer, die in eine Richtung eines nationalen Staates und der Wiederauferstehung jahrhundertealter Traditionen drängen. Wenn diese populistischen Gedanken mit größerem literarischen Talent dargelegt würden, könnten sie manche enttäuschte Seele erreichen und dort Zustimmung finden. Denn enttäuschte Menschen sind, solange sie wenige sind, nur unglücklich. Aber wenn es viele sind, werden sie gefährlich. Dann reicht es, sie hinter einem gemeinsamen Grund für die Enttäuschung zu vereinen; ihnen glaubhaft zu machen, dass genau hier der Ursprung ihres Unglücks ist; ihnen einen angeblichen Ausweg zu zeigen und sie so zu einer mächtigen zerstörerischen Kraft zu machen. So war es schon mehr als einmal in Europa, daraus sind Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus entstanden.

Die heutigen Radikalen haben nichts Neues erfunden, sie nutzen eine erprobte Methode – sie sammeln die Enttäuschten und versuchen, sie auf einen neuen Feind zu hetzen, das Europa ohne Grenzen. Denn genau dieses Europa hält sie am meisten auf, bremst sie sogar dann, wenn es ihnen gelingt, in dem einen oder anderen EU-Land in die Nähe der Macht zu kommen.

Manche der EU Länder, vor allem jene im Osten, haben viele tüchtige, arbeitende Menschen an reichere Länder „verloren“, auf der anderen Seite stehen jene, die meinen, dass ihnen diese zugewanderten Menschen die Jobs wegnehmen.

Migration und Terror werden sicher nicht verschwinden wenn Europa in Nationalstaaten zerbricht. Und das Zerbrechen hätte zur Folge, dass die Feinde Europas jene aus ihrer Sicht verhasste Festung zerstört haben werden, die die „gotteslästerlichen“ Ideen von Rede- und Religionsfreiheit, Frauenrechten und Gleichheit der Geschlechter in die Welt hinausgetragen hat. Mehr Sicherheit wird es in einem zerbrochenen Europa nicht geben.

In einem zerfallenen Europa könnte ganz Ost- und Nordeuropa in Russlands Einflussgebiet abdriften, sein Süden an Flüchtlingen und wirtschaftlichem Stillstand ersticken und überall nach und nach die örtlichen „Retter“ an die Macht kommen, die einen dritten Weg der „besonderen Demokratie“, nämlich die Diktatur der Autokraten, anbieten. Der Zerstörer hat immer einen Vorteil gegenüber dem Erschaffer, denn er muss nichts beweisen, es reicht, wenn er verneint. Aber sobald er zerstört hat, macht er sich aus dem Staub, lehnt jegliche Verantwortung ab und verschwindet in der Menge. Haben sich so nicht die Initiatoren und Rufer des Brexit verhalten?

An Europa gibt es vieles zu verbessern. Vielleicht sollte vorerst das nicht endende Geschwätz über seine unlösbaren Probleme und seinen unvermeidlichen Zerfall eingestellt werden. Es wurde ein ganzer Berg von Problemen aufgeschüttet, der Europa zu zerquetschen droht und die Sicht auf das Gute verstellt das von Europa ausgeht.

Gehen wir’s an: Lösen wir ein Problem nach dem anderen, Europa wird nicht zerbrechen.

 

Oh Europa!

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