Immer wieder wird – meist in der Politik – vom Überschreiten der Roten Linie gesprochen. Ich habe versucht herauszufinden, woher das kommen könnte. Bei „rote Linie“ oder „Red Line“ habe ich hauptsächlich Verkehrsverbindungen in verschiedenen Städten gefunden. Eine rote Liniennummer respektive ein roter Linienbuchstabe ist eine spezielle Variante, um Straßenbahn-, Oberleitungsbus- oder Omnibus-Fahrgäste auf einen abweichenden Laufweg, nicht bediente Zwischenhalte oder bestimmte tarifliche Besonderheiten einer Linie hinzuweisen. Aber auch „etwas tun, das nicht mehr toleriert werden kann; einen Tabubruch begehen; eine Grenze überschreiten“.
Beispiele dafür sind z.B.
- Obama hatte Assad mit nicht näher beschriebenen Konsequenzen gedroht, falls er die ‚rote Linie‘ überschreite und chemische Waffen einsetze“; In den vergangenen Monaten hatte sich die Lage in Syrien und das Verhältnis dieses Landes zu den westlichen Mächten verschärft. Ein Giftgasanschlag, bei dem knapp 1500 Menschen ums Leben kamen, hatte eine umfangreiche Neubewertung der Situation verursacht und besonders die USA veranlasst , einen militärischen Vergeltungsschlag in Betracht zu ziehen. Eine Begründung für diese Abwägung lieferte US-Präsident Obama mit den Worten, Assad habe eine “rote Linie“ überschritten.
- Indem Trump Vergeltung schwor, nicht etwa für eine Militäraktion Nordkoreas, sondern allein für deren Androhung, zog Trump eine rote Linie, die er nicht wird halten können. Nordkorea hat mit seinem Raketentest eine rote Linie überschritten – meint die Huffington Post.
- Die USA haben mit dem NSA-Skandal und dem Abhören des Handys der deutschen Kanzlerin eine rote Linie überschritten
- Die deutschen Forschungsvorhaben zur Mustererkennung in der Videoüberwachung überschreiten eine rote Linie: Eine geheim gehaltene Software soll verdächtige Personen aufspüren, indem ihr Verhalten oder auffällige Gepäckstücke untersucht werden;
- Schlecht bestellt ist es in den Augen der Kommission auch um die Pressefreiheit in Rumänien. Immer wieder komme es zu Übergriffen, bei denen Medien dazu benutzt würden, Druck auf die Justiz auszuüben. Die Klagen rumänischer Journalisten seien nach Brüssel vorgedrungen, wie es dort heißt. Solche Vorgänge ‚überschreiten eine rote Linie‘, so der EU-Kommissionssprecher.
- Die rote Linie bezeichnet von 1866 bis 1871die Südgrenze des Norddeutschen Bundes. Dabei wird eher der Begriff „Mainlinie“ verwendet: Im historisch-politischen Sinne wird unter Mainlinie die Abgrenzung der Einflusssphären der beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen innerhalb des Deutschen Bundes im 19. Jahrhundert bezeichnet. Später wurde die Mainlinie Südgrenze des Norddeutschen Bundes. Die historisch-politische Mainlinie wird noch heute häufig als Nordgrenze Süddeutschlands angesehen, manchmal auch als Weißwurstäquator bezeichnet.
Seitdem nimmt man sie in zunehmendem Maße wahr, die roten Linien. Was einstmals der Rubikon war, der überschritten wurde, wenn ein Tabubruch begangen wurde, und was später dann Grenzen waren, die übertreten wurden, sind heute allerorten rote Linien.
Aber stimmt der Vergleich mit dem Rubikon? Der Römische Senat beschloss am 7. Januar 49 v. Chr., dass Gaius Julius Caesar sein Heer entlassen und sein Imperium, d. h. seine Befehlsgewalt für Gallien und Illyrien, niederlegen müsse, ehe er erneut für das Konsulat kandidieren dürfe. Daraufhin überschritt Caesar am 10. Januar 49 v. Chr. mit seinen Truppen den Rubikon. Die bewaffnete Überquerung des Flusses in Richtung Süden – und damit in Richtung Rom – war gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung an den Römischen Senat. Caesar war sich bewusst, dass es ab diesem Punkt kein Zurück mehr gab, was er in dem berühmten Zitat alea iacta est (wörtlich: „Der Würfel ist geworfen worden“) zum Ausdruck brachte.
Woher könnte die rote Linie wohl kommen? Die Farbe Rot steht unter anderem symbolisch für Warnung und Verbot z. B. rote Ampel, rote Karte beim Fußball, Warn- und Verbotsschilder im Straßenverkehr. Rote Linien werden oft zur Markierung von Absperrungen genutzt, die nicht übertreten werden dürfen. Da die Redensart in keinem deutschen Wörterbuch für Redensarten verzeichnet ist, könnte sich dabei daher um eine Wendung neueren Datums handeln. Die Äußerung von US-Präsident Obama aus dem Jahr 2012 hat für die die Verbreitung der Wendung gesorgt. Die englischsprachige Redewendung „to cross the red line“ entspricht jener im Deutschen. Im Englischen bedeutet „to redline“ ausgrenzen, ausschließen. Messgeräte (z. B. Drehzahlmesser, Tachometer im Auto) sind oft mit einer roten Markierung versehen, die die Grenze der Belastbarkeit des Motors kennzeichnet. Der Begriff „Redlining“ wurde in Amerika in den späten 1960er Jahren geprägt. Er bezog sich auf die Praxis von Versicherungen und Banken, auf einer Karte Bereiche mit einer roten Linie zu markieren, innerhalb derer – oft mit rassistischem Hintergrund (z. B. innerstädtische Viertel mit hohem Anteil afroamerikanischer Bewohner) – Dienstleistungen wie z. B. die Vergabe von Krediten oder Versicherungsverträgen verweigert wurden.
Doch die Redewendung der roten Linie im Sinne einer bildlichen Grenze ist nicht völlig neu: Schon in den 90er Jahren – und vermutlich bereits davor – sprach man von symbolischen roten Linien, die nicht überschritten werden sollten. Dies war jedoch vergleichsweise selten der Fall. Viel häufiger hatte die rote Linie damals noch einen deutlich physischeren Charakter, etwa als Grenze zwischen zwei Staaten (oft war der Irak involviert, z. B. bei einer »roten Linie« um Bagdad). Auch diese roten Linien waren nicht zu überschreiten.
Was aus diesem Dickicht an neuen Verwendungen der Redewendung heraussticht, sind jene, bei denen die rote Linie selbst, nicht mehr nur respektiert oder überschritten werden kann: Mittlerweile scheint die rote Linie neben der Bedeutung einer symbolischen Grenze eine weitere zu tragen, nämlich die des roten Tuchs, eines Themas, das äußerst umstritten ist. Der guten Ordnung halber: es gibt auch ein Buch mit dem Titel „Rote Linie, Ritzen bis aufs Blut“ bzw. „Red Line“ einen amerikanischen Aktion-Film dieses Namens.
Es ist zu vermuten, dass uns in absehbarer Zukunft noch diverse rote Linien begegnen werden – um möglicherweise sang- und klanglos wieder zu verschwinden oder aber einen dauerhaften Platz in unserem Wortschatz zu erhalten: neben der übertretenen Grenze und dem überschrittenen Rubikon.