Kürzlich, anlässlich 100-Jahre Oktober-Revolution konnte man im Fernsehen die hervorragende Dokumentation von Hugo Portisch sehen. Eindrucksvoll, wie die chaotische Situation 1917 klar aufgegliedert und erläutert wurde.
Der russische Staat nämlich hält sich mit Gedenkanlässen zum 100-Jahr-Jubiläum stark zurück. Das Budget kremlnaher Organisationen für derartige Aktionen beträgt laut Medienberichten magere 50 Millionen Rubel (ca. 736 286 Euro). Auch die Idee, den Sturm auf den Winterpalast in St. Petersburg nachzustellen, wurde nach heftiger Kritik aufgegeben. Als nachhaltiger könnte sich die seit 2013 andauernde Arbeit von Historikern an einem einheitlichen Geschichtsbuch für alle Schulen erweisen. Heute herrschen Halbwissen und Verschwörungstheorien vor. Angeblich wissen nur 11 Prozent der Russen, gegen wen die Bolschewiki die Revolution durchführten, und gar nur 7 Prozent, bis wann der Bürgerkrieg dauerte. In nationalistischen bis rechtsextremen Kreisen ist die Theorie stark verbreitet, dass Lenin ein Agent einer «jüdischen Weltverschwörung» gegen Russland war.
Wer war nun Lenin: eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, geboren am 10. Juli/ 22. April 1870 (nach gregorianischem Kalender) in Simbirsk heute umbenannt in Uljanowsk; gestorben am 21. Januar 1924, war ein russischer kommunistischer Politiker und Revolutionär sowie marxistischer Theoretiker, Vorsitzender der Bolschewiki-Partei und der aus ihr hervorgegangenen Kommunistischen Partei Russlands, Regierungschef der Russischen SFSR (1917–1924) und der Sowjetunion (1922–1924), als deren Begründer er gilt.
Nachdem Lenins Bruder Alexander Uljanow wegen eines geplanten Attentats auf den Zaren hingerichtet worden war, schloss sich der junge Mann den marxistischen Sozialdemokraten an und widmete sich der Untergrundarbeit für eine kommunistische Revolution in Russland. Mehrmals musste er ins Exil emigrieren, die meiste Zeit in die Schweiz. Er gründete 1903 eine eigene Fraktion in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, die Bolschewiki, die spätere Kommunistische Partei Russlands.
Nachdem Anfang 1917 in Russland die Monarchie in einer bürgerlichen Revolution gestürzt worden war – laut Portisch eigentlich von den St. Petersburger Bürgerinnen – und die neue Regierung an Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg festhalten wollte, eroberten die Bolschewiki unter Lenins Führung in der Oktoberrevolution die Macht. Sie lösten die verfassungsgebende Versammlung gewaltsam auf und schränkten die Meinungsfreiheit ein. Es gelang den Bolschewiken im nun folgenden Bürgerkrieg, den Großteil der Gebiete des ehemaligen Russischen Reiches unter ihre Kontrolle zu bringen und den Widerstand der sogenannten Weißen Armeen und auch anderer gegnerischer Bürgerkriegsparteien militärisch und durch Einsatz des roten Terrors zu brechen, trotz der materiellen Unterstützung der Weißen Armee durch zahlreiche ausländische Mächte, u. A. der USA, Frankreich, und der zeitweiligen Besetzung russischer Gebiete durch andere Staaten. Gegen Ende des Krieges, 1922, gründeten die Bolschewiki die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.
Zu dieser Zeit war Lenin bereits schwer krank. Nach seinem Tod 1924 wurde sein Leichnam einbalsamiert und in einem Mausoleum an der Mauer des Kremls ausgestellt. In der Folge stellten die Stalinisten Lenins Bedeutung für die Sowjetunion und den Kommunismus Moskauer Prägung immer weiter heraus. Innerhalb der politischen Linken ist die Beurteilung der Rolle Lenins bis heute umstritten. Nach Lenins Tod, seit der Zeit des Stalinismus, wurde daraus die Ideologie des Marxismus-Leninismus konstruiert. Auf der anderen Seite stehen Verweise auf Menschenrechtsverletzungen, Dogmatismus und antidemokratische Tendenzen, die mit modernen Sozialismuskonzepten nicht vereinbar seien. Eine große Rolle bei der Beurteilung der leninschen Theorie spielen die Fragen, ob sich der Kommunismus auch in einem industriell rückständigen Land entwickeln könne, und welche Rolle dabei einer Partei neuen Typus zukam.
Lenin verkörpert den Bruch und den Widerspruch zwischen diesen Epochen: Er gründete durch die Zerstörung des zaristischen Systems die UdSSR, die ein rückständiges Agrarland innerhalb weniger Jahrzehnte in eine moderne Gesellschaft verwandelte. Auf die Revolution folgten der Rote Terror und der bis 1922 dauernde Bürgerkrieg gegen die «Weißen» mit Millionen von Toten. Dieser resultierte im Sieg der Sowjetmacht über ihre zaristischen, bürgerlichen und gemäßigt linken Gegner. Vor seinem Tod im Jahr 1924 schlug Lenin zwar eine gemäßigtere Politik ein. Die darauffolgenden Gräuel des Stalinismus erfolgten aber einmal mehr in seinem Namen.
Die Lenin-Gedenkstätte in Uljanowsk, das bis 1924 Simbirsk geheißen hatte, wurde als „architektonischer und ideologischer Leuchtturm“ konzipiert. Sie ist Museum, Forschungszentrum und Konzertsaal und entstammt einer Zeit, als die „Rückbesinnung auf Lenin“ nach dem Stalinismus und dessen widersprüchlicher Aufarbeitung im „Tauwetter“ der fünfziger und frühen sechziger Jahre zum neuen Dogma der Parteiführung wurde: Während überall Lenin-Statuen entstanden, plante der ebenfalls aus Uljanowsk stammende Chefideologe Michail Suslow die Lenin-Gedenkstätte.
Zwischen 1967 und 1970 gestalteten die besten Architekten und Bildhauer den Bau. Um den Betonquader herum entstand ein Park mit Wasserspielen. Die wirtschaftlich schwach entwickelte Stadt erhielt ein neues Gesicht: Im Zentrum rissen die Behörden Hunderte von Holzhäusern ab und siedelten die Bewohner in Plattenbauten um. Eine Universität und zwei Hoteltürme wurden gebaut, für die Studenten und jährlich eine Million Touristen. Auf dem Lenin-Platz durfte selbstverständlich auch eine Statue des Staatsgründers nicht fehlen.
Heute ist der Glanz der sowjetischen Moderne verblasst, die Innenstadt eher trist. Die Bassins vor der Gedenkstätte sind leer, der Asphalt bröckelt, und die Gedenkstätte ist eingezäunt: Die Steinplatten der Fassade könnten herunterfallen. Nach 47 Jahren ist das Gebäude stark sanierungsbedürftig. Die Kosten dafür müsste Moskau schultern, doch wurde die geplante Renovierung wiederholt verschoben. Es ist zweifelhaft, ob ihr der Kreml hohe Priorität zumisst in Zeiten der knappen Finanzen.
Dennoch äußert Moskau die Hoffnung, dass Lenin wieder zu einer Figur der nationalen Einheit werden könnte: Tatsächlich sehen laut einer Umfrage 56 Prozent die Rolle Lenins in der Geschichte des Landes in positivem Licht – eine Zunahme um über 10 Prozentpunkte in der letzten Dekade. Der Rest lehnt ihn jedoch ab oder hat keine Meinung, was die Spaltung der Gesellschaft eher betont als relativiert. Der Wunsch, die konfliktträchtige Geschichte Russlands durch eine versöhnliche und patriotische Erzählung zu entschärfen, entspricht den Zielen der staatlichen Geschichtspolitik. Beim Zweiten Weltkrieg ist dies bereits gelungen; der Heldenmythos der Roten Armee hat in der Öffentlichkeit Fragen nach Fehlern der Führung oder nach den 27 Millionen Toten, welche der Sieg gefordert hat, weitgehend verdrängt. Stalin gilt als nachahmenswerter Held.
Für das Jahr 1917 scheint die Gestaltung der Geschichte komplizierter, da es zwei Revolutionen mit divergierenden Zielen gab – eine im Februar und eine im Oktober –, die in der neugeschaffenen Leerformel «Große Russländische Revolution» nur schwer einzubinden sind, vom Bürgerkrieg und Rotem Terror ganz zu schweigen.
In der Sowjetunion und später in Russland ist es üblich, die Geschichte nach gegenwärtigen Erfordernissen darzustellen.