Frühjahr 1945 – der Krieg ging seinem Ende zu. Man hörte Kanonendonner – noch in der Ferne. Wir hielten uns damals, aufgrund der Bombengefahr in Wien, im Mühlviertel, in Pregarten auf. Vielleicht kam dieser Kanonendonner aus Gramastetten? Dort fand Anfang Mai eines der letzten schweren Gefechte in Oberösterreich und das letzte im Mühlviertel statt: Kräfte des 3. SS-Panzergrenadier- und Ausbildungsbataillons hatten sich dort verschanzt, um den Vormarsch der US-Verbände auf Linz zu stoppen. Mit Flugblättern forderten die anrückenden US-Truppen den Bürgermeister zur kampflosen Übergabe des Ortes auf. „Sie haben die Wahl: Übergabe und Schonung Ihrer Ortschaft – oder Widerstand und Vernichtung“, stand darauf zu lesen. Die Bereitschaft zur Kapitulation war in der Bevölkerung groß, der Pfarrer wollte auf dem Kirchturm eine weiße Fahne hissen, die deutschen Einheiten wurden inständig gebeten, keinen Widerstand zu leisten. Doch die SS-Kommandeure untersagten eine Aufgabe und ordneten an, dass die Bewohner in den Kellern Schutz suchen sollten. Grammastetten wurde zwei Mal angegriffen: einmal von Seiten der US Kampfverbände und später, als es von den Amerikanern erobert worden war, noch einmal von den deutschen Truppen.
Nun dieses Schicksal blieb Pregarten erspart.
Dort erlebte ich zuerst die Auflösung der Deutschen Wehrmacht. Für uns bedeutete das, dass Soldaten zu uns kamen und um zivile Kleidung baten – das war schwierig, weil wir selbst wenig zum Anziehen hatten. Diese Soldaten fürchteten sich einerseits davor von den Deutschen – noch intakten Truppen, vor allem SS-Einheiten – gefangen genommen und standrechtlich erschossen zu werden. Andererseits wollten sie ihre Gefangennahme durch die (noch) feindlichen Truppen verhindern, vor allem wollten sie nicht in russische Gefangenschaft geraten. Nur ein einziger, er erzählte uns, dass er sich nach Berlin durschlagen wolle, nach Hause, zur Mutter, wollte das in SS-Uniform tun, damit ihn seine Mutter in voller militärischer Pracht sehen könne. Wir rieten ihm ab, nachdem er bei uns etwas gegessen hatte, aber er machte sich dennoch auf den Weg – ob er je lebend angekommen ist?
Aber nicht nur Personen flüchteten, sie ließen auch ihr nicht mehr benötigtes Gerät einfach herumliegen. Das warten Autos, in den Graben gefahren, vielleicht weil sie kein Benzin mehr hatten, das waren Waffen jeglicher Art… Einheimische Kenner konnten vieles davon brauchen, alles was aber als „militärisch“ erkennbar war und nicht versteckt werden konnte, blieb liegen, denn man wollte sich dadurch nicht in Gefahr durch die nachfolgenden damals noch feindlichen Truppen bringen.
Die Zivilisten versuchten auch alles los zu werden, was sie eventuell als Nazis ausweisen könnte: Hitlerbilder wurden zerbrochen und verbrannt, fast jeder Haushalt verfügte über einen „Mein Kampf“ (bei Verehelichung bekam man ja dieses Buch geschenkt), auch dieser wanderte in die Flammen. Aber es gab dann noch z.B. HJ(Hitler-Jugend)-Messer mit einem Hakenkreuz, Gürtelschnallen etc. die man nicht so leicht zerstören konnte. Von den roten Fahnen wurde das Hakenkreuz abgetrennt oder herausgeschnitten.
Und man begann „Lebenswichtiges“ vor allem Lebensmittel zu vergraben (nicht, dass es später viel genützt hat: die Russen stocherten mit ihren Bajonetten auf jenem Boden, der frisch „umgegraben“ wirkte, und fanden – und konfiszierten dann auch diese mageren Vorräte.)
Dann kamen die Amerikaner, sie fuhren mit den stolzen Panzern, Sherman, in Pregarten ein. Jedes Haus hatte eine weiße Fahne herausgehängt. Das Volk gaffte, geschossen wurde nicht. Meine Handarbeitslehrerin stand auch da und schaute. Sie war mir nicht gerade freundlich gesinnt, da ich beim Sockenstricken in der Schule die tückische Ferse nicht hingekriegt habe, und dieses Gefühl war durchaus gegenseitig. Wie es sich damals (noch!) gehörte, grüßte ich diese Lehrerin mit – anders kannten wir es ja nicht – „Heil Hitler“. Ein Soldat auf dem Panzer schaute sie nur äußert indigniert an und sie machte sich so klein als möglich. Der Bürgermeister (zwar ein Nazi, aber sicher kein Fanatiker) blieb im Amt, auch sonst änderte sich nicht viel – es war ja noch nicht „Frieden“, der so ersehnt worden war. Ein paar Soldaten blieben im Ort. Wir Kinderbekamen von ihnen Schokolade – es war die Marke Hershey, die ich daher noch immer gerne esse – und Kaugummi, uns bis dahin unbekannt und auch nicht ganz so beliebt war.
Aber die Zeit der Amerikaner währte nur kurz, sie wurden durch die Russen abgelöst. Grundsätzlich waren auch Russen nett zu Kindern, das hatten wir schon erfahren, als sie als Kriegsgefangene auf den Bauernhöfen gearbeitet hatten. Damals hatten sie Spielzeug aus Holz für uns geschnitzt. Jetzt aber hatte ein Rollentausch stattgefunden. Die Russen warten nun die „Herren“. Problematisch war das Verhältnis mit ihnen, sobald sie betrunken waren – und das waren sie oft. Ich erinnere mich noch gut an ihren Ruf „Ura, Ura“, wenn sie den verschreckten Einheimischen die Uhren abnahmen. Oder auch das Pumpern an die Eingangstüren mit ihren Gewehrkolben mit dem Ruf „Frau, Frau“. Da wurde es dann brenzlig. Ich lernte, was damit gemeint war. Es war hart für meine Mutter, von einem 10jährigen Mäderl gefragt zu werden, was denn eine Vergewaltigung wäre. Meine Mutter und ich verbrachten einige Nächte im Ort, wo sich in einem Haus viele Frauen mit ihren Kindern versammelten, die von den wenigen (meist alten) Männern beschützt wurden. Andere Frauen verbrachten ihre Nächte versteckt in Höhlen. Aber auch tagsüber war man nicht sicher. Da wir das Wasser aus einer Quelle holen musste, die ein Stück weit vom Haus entfernt war, musste man auch da aufpassen, dass keine Russen in der Nähe waren.
Es wurde auch geplündert. Wir bewohnten ein Zimmer im Haus des Hammerschmieds. Im Vorzimmer stand eine Truhe, die nicht von uns benutzt werden durfte, denn darin befanden sich Dinge, die eine Familie aus Linz dort eingelagert hatte. Die Truhe wurde von den Russen aufgebrochen und es kam zu einem sehr kritischen Moment, denn darin befand sich eine SS-Uniform eines höheren Militärs.
Zu unserem Glück glaubte man uns, dass das Zeug nicht uns gehörte.
Meine Freiheit, die ich vorher genossen hatte, jederzeit überall herumzustreunen war nun jäh beendet worden. Ich musste zu Hause bleiben. Meine Mutter wurde zur Arbeit für die Russen eingeteilt, Kochen, Wäsche waschen etc.
Nach relativ kurzer Zeit begaben wir uns dann auf die Reise nach Wien, um zu sehen, ob das Haus, indem sich unsere Wohnung befand, noch stand.
Es stand. Es gab zwar ein Riesenloch in einer Wand und alle Fenster waren kaputt, aber das wurde damals als sehr harmlos empfunden.
Einiges zu diesem Thema habe ich schon in meinen Blogbeiträgen vom 25.12.2016 „Aus Feinden können Freunde werden“ und 07.09.2017 „Erinnerungssplitter Kriegsende“ veröffentlicht