Als ich noch im Arbeitsprozess stand – so sagt man doch? -, das ist schon ein Weilchen her, wurde eine so genannte „Gansl-Runde“ installiert. Diese Runde, bestehend aus einer Reihe von Kollegen meiner Umgebung ging rund um den Martinitag gemeinsam Gansl-Essen. Ich war schon immer die Älteste in der Runde, wurde aber immer von den anderen einerseits mit Respekt aber auch mit Rücksicht eher liebevoll behandelt. Es hatte sich sehr gut getroffen, dass es in der Umgebung unserer gemeinsamen Arbeitsstätte ein Wirtshaus gab, das einerseits sehr gute Gänse briet und andererseits dem Vater eines der teilnehmenden Kollegen gehörte. Dieses Wirtshaus, im Lichtental in Wien, war für seine Gänse weithin berühmt, und daher auch von viel Prominenz aufgesucht.
Es musste unbedingt eine Anmeldung erfolgen, Partner (Ehe- oder auch nicht) waren immer dazu eingeladen. Eine passende Anzahl von Portionen dieses köstlichen Geflügels wurde bestellt und wir trafen alle recht erwartungsvoll ein. Vorspeisen oder Suppen wurden eher nie gegessen – obwohl es eine köstliche Ganslsuppe, mit Bröselknödeln, gab, und bald fanden sich am Tisch eine riesige Platte mit verschiedenen Gänseteilen, Schüsseln mit Rotkraut, weitere Schüsseln mit unübertrefflichen Krautsalat, und selbstverständlich Semmel- und Erdäpfelknödel. Dazu jeweils die gewünschten Weine, für mich ein trockener Grüner Veltliner, für manche andere ein passender Rotwein. Das Gelage konnte beginnen. Jeder konnte sich das ihm genehme Stück (oder mehrere) aussuchen „Der Schmäh rannte“, wie man so in Wien sagt. Der Wirt, eben der Vater eines der Kollegen, erkundigte sich immer, ob wir mit dem Gebotenen auch zufrieden waren und wenn etwas ausgegangen war, wurde es prompt nachgeliefert. Für ein Dessert hinterher blieb eigentlich kein Raum, aber selbstverständlich für ein Schnapserl, wer es mochte.
Nach einem derartig gelungenen Beginn wurde das Ganslessen zu einer gemeinsamen Tradition. Selbst als durch immer wieder stattfindende Umstrukturierungen bei unserem gemeinsamen Arbeitgeber der Zusammenhalt der Gruppe einigermaßen lockerer wurde, wurde an der Tradition des jährlichen gemeinsamen Essens eher nichts geändert. Die PartnerInnen wechselten zuweilen oder verschwanden. Manche der Teilnehmer machten ihre Karriere jetzt schon bei anderen Firmen, aber immer wieder gingen wir gemeinsam ins Lichtental.
Dann allerdings änderte sich vieles, als der Wirt und Vater des Kollegen ernsthaft krank wurde und aus gesundheitlichen Gründen das Geschäft aufgeben musste. Er erholte sich zum Glück später, das Wirtshaus im Lichtental war an andere Besitzer, Betreiber übergegangen. Einmal probierten wir dieses Etablissement noch aus, aber ohne den fröhlichen, umgänglichen Wirt und Vater unseres Kollegen, zogen wir dann doch etwas enttäuscht ab.
Ganz sollte die Tradition doch nicht fallen gelassen werden, also wurde ein alternatives Lokal gesucht. Aber persönliche Krisen, Schwierigkeit von Terminabstimmungen mit Kollegen, die nicht mehr im gemeinsamen Büro saßen, mangelnde Interesse, diese Organisationsaufgabe zu übernehmen ver- und behinderten einige Treffen.
Aber, so wurde entschieden, heuer sollte wieder das Ganslessen stattfinden. Die Organisation ging in neue Hände, ein Lokal wurde bestimmt und die Einladungen ausgesendet nicht (mehr an jenen, der aus Wien weggezogen war). Zwei der Eingeladenen waren dienstlich verhindert, einer kam nur zu Beginn, einfach um alle miteinander einmal zu sehen, er musste dann aus familiären Gründen weggehen. Wir bleiben zu fünft. Partner waren keine mehr dabei. Um es gleich vorauszuschicken, das Essen kommt bei weitem nicht an jenes heran, das es im Lichtental gegeben hatte. Jeder bekam ein „Haxl“, es wurde ein Schüssel Rotkraut mit Äpfeln auf den Tisch gestellt (kein Krautsalat!) und für jeden ein Erdäpfelknödel. Ich muss leider vermerken, dass die Haut des Gansels sehr hart war und das Fleisch drunter fasrig und trocken, aber wir sind ja nicht primär wegen des Essens zusammengekommen, sondern weil wir einander sehen wollten und eigentlich um zu erkunden, wie es den jeweils anderen „so geht“. Wie meist anfangs (in dieser Gruppe) standen Probleme der Zuwanderung im Mittelpunkt, wobei erwartungsgemäß auf der einen Seite die Gründe im überbordenden Kapitalismus gesucht wurden, die andere Seite – unabhängig von der Einstellung – einfach die Zuwanderung überhaupt abgelehnt wurde (Kollege wohnt in Ottakring, wo die Zuwanderung besonders evident ist). Dann wurde von den Erlebnissen der beiden abenteuerlustigen Fernreisenden mit allerhand „Großgetier“ in Afrika berichtet, wohl der lustigste Teil des Abends. Aber bald kam es schon zur Diskussion der „persönlichen Befindlichkeit“. Und die zeigt wohl von dem Dilemma der „mittleren Generation“. Es sind viel weniger die Probleme, die sich aus Patchworkfamilien ergeben, die scheinen relativ leicht zu bewältigen zu sein, es sind die Probleme der Eltern dieser Generation, die sehr alt werden und sehr pflegebedürftig sind. Pflegebedürftigkeit allein scheint sich auch noch bewältigen zu lassen, aber nicht, oder sehr schwer, nur unter großen Opfern dann, wenn diese Eltern, oder Elternteile langsam dement werden. Das Extrembeispiel dazu wurde geliefert: der immer schon äußerst patriarchalisch agierende Hausvater mit unterwürfiger Ehefrau wirft Pflegerinnen regelmäßig aus dem Haus. Sein Enkel, der ihn betreut, also mein ehemaliger Kollege, nennt die Zahl 50, betreffend Pflegerinnen, die hinausgeworfen worden waren und umgehend ersetzt werden mussten. Er meint, er wäre froh, dass diese Frauen aus dem Ausland die deutsche Sprache nur schlecht verstünden und damit die Beschimpfungen durch den Großvater nicht „mitkriegten“, sonst wäre er (der Enkel) noch öfter gefordert, prompt ins Burgenland (er wohnt in Wien) zu fahren, um die Situation wieder zu retten. Wahrscheinlich ist das ein Extrembeispiel, aber für die Betroffenen eine äußerst schwierige Situation, besonders wenn auch die Kinder der Aufmerksamkeit bedürften.
So ist dieses Ganslessen teilweise sehr lustig aber auch teilweise sehr besinnlich verlaufen. Wir haben beschlossen, es im nächsten Jahr zu wiederholen. Ich kann für mich nur dazu sagen: wenn Gott mir das Leben und die Gesundheit (halbwegs) schenkt.