Die Bande lockern sich
Es schockiert mich. Nach dem Brexit nun: Schweiz lässt Rahmenabkommen mit der EU nach langen Verhandlungen über die bilateralen Beziehungen platzen. Allerdings bleiben ohne das Rahmenabkommen die bilateralen Verträge zwischen der EU und der Schweiz bestehen, für Grenzgänger etwa ändert sich zunächst nichts. Allerdings hat die Europäische Union diese Woche gewarnt, mit welchen Folgen die Schweiz ohne den Abschluss rechnen müsse: Es werde keine weiteren Abkommen geben, und ältere Abkommen würden möglicherweise nicht aktualisiert.
Eigentlich ist der Vertrag schon seit 2018 ausgehandelt – in der Schweiz gab es aber massive Bedenken, was zu Nachforderungen aus Bern führte. Zuletzt beharrte die Schweiz darauf, Streitfragen zu entsendeten Arbeitnehmern, Staatsbeihilfen und der Personenfreizügigkeit aus dem Abkommen zu nehmen. Dies lehnte die EU ab. Mit dem Vertrag sollte der Zugang der Schweiz zum europäischen Binnenmarkt gesichert und der Weg zum Abschluss neuer Abkommen ermöglicht werden.
Der Rahmenvertrag hätte die Abkommen zur Personenfreizügigkeit, zu Agrarhandel, Luft- und Landverkehr sowie zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse betroffen. Auf diesen Feldern sollte die Schweiz fortan „dynamisch“ EU-Recht übernehmen.
Bisher müssen die Vereinbarungen bei jeder Änderung des EU-Rechts nachverhandelt werden, was zuweilen nur stockend oder auch gar nicht erfolgt. Außerdem sah der Vertrag die Einführung eines Schiedsverfahrens zur Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zwischen den Vertragspartnern vor.
Die Schweiz ist über bilaterale Verträge aber in viele europäischen Projekte eingebunden. Sie hat auch Zugang zum EU-Binnenmarkt und gewährt im Gegenzug die Personenfreizügigkeit. Nach EU-Angaben leben 1,4 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger in der Schweiz und gut 340.000 EU-Bürger pendeln jeden Tag in die Schweiz. 400.000 Schweizer leben in der EU. Der Handel mit der EU macht 60 Prozent des Schweizer Bruttoinlandsprodukts aus, umgekehrt ist die Schweiz für die EU der viertgrößte Handelspartner nach den USA, China und Großbritannien.
Die EU-Kommission kündigte indirekt an, dass sie die Abkommen ohne den Rahmenvertrag nicht mehr aktualisieren werde. Im Fall der Medizintechnikbranche hat sie genau das schon getan: Nach einigen Rechtsänderungen im Zusammenhang mit dem Patientenschutzes weigerte sich die EU, das Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Produktbescheinigungen zu erneuern. Das erhöht bürokratische Hürden für Exporte von Medizinprodukten in die EU, aber auch für entsprechende Importe aus der EU in die Schweiz.
Wesentliche Streitpunkte waren: Staatshilfen, Maßnahmen zum Schutz der hohen Schweizer Löhne und den Zugang von EU-Bürgern zu Schweizer Sozialkassen.
Das Aus für den Rahmenvertrag bedeutet auch, dass die EU vorerst keine Abkommen auf neuen Feldern abschließt. Dies könnte unter anderem zu Lücken in der Schweizer Stromversorgung führen. Der nationale Netzbetreiber Swissgrid weist darauf hin, dass der Schweiz ohne entsprechendes Abkommen mit der EU der Ausschluss aus dem sogenannten Regelenergiemarkt drohe. Diesen nutzen europäische Netzbetreiber, um das Netz bei ungeplanten Stromflüssen auszubalancieren.
Der Bundesrat will sich dafür einsetzen, dass das Parlament in Bern die sogenannte Kohäsionsmilliarde freigibt. Dabei handelt es sich um ein mit 1,3 Milliarden Franken gefüttertes und auf zehn Jahre angelegtes Programm zur Verminderung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in den EU-Staaten. Für die EU-Kommission ist die Kohäsionsmilliarde indes eine Art Eintrittsticket der Schweiz für den europäischen Binnenmarkt, das längst hätte gelöst werden sollen.
Die EU-Kommission teilte ihrerseits mit, man nehme „diese einseitige Entscheidung der Schweizer Regierung zur Kenntnis“ und bedauere diese „angesichts der Fortschritte, die in den letzten Jahren gemacht wurden“. Die oberste EU-Behörde erinnerte an den Zweck, den sie mit dem Rahmenabkommen erzielen wollte: Es sollten „für alle gleiche Bedingungen gelten, die im EU-Binnenmarkt agieren, zu dem auch die Schweiz einen signifikanten Zugang hat“. Aus Brüsseler Sicht geht es um Fairness und Rechtssicherheit: Privilegierter Zugang zum Binnenmarkt setzt voraus, dass alle die gleichen Regeln und Pflichten respektieren.
Ich mache mir Sorgen – um die EU; ist sie nicht mehr attraktiv genug, um dazuzugehören, treten nur mehr Staaten bei, die sich finanzielle Vorteile erhoffen? Ich wünsche mir eine grundlegende Reform dieser Institution – die halt jetzt schon in die Jahre geraten ist. Dass die Schweiz nicht mehr interessiert ist, zumindest irgendwie dazu zu gehören, erscheint mir schon sehr bedenklich.