Litauen und Russland messen Kräfte (am Suwalki-Korridor)
Litauen hat kürzlich Russland „beleidigt“. Es hat sich auf die bestehende EU-Sanktionen berufen und den Warenverkehr nach Kaliningrad, der russischen Enklave, zwischen Litauen und Polen, beschränkt. Unter anderem dürfen nun kein Zement, keine Baumaterialien oder Metalle mehr auf dem Landweg in die russische Ostseeregion gebracht werden. Nach Angaben von Kaliningrads Gouverneur Alichanow sind bis zu 50 Prozent des Transits von und nach Kern-Russland betroffen. Russische Offizielle hatten bereits Gegenmaßnahmen angekündigt, in Moskau wird nun die Rechtmäßigkeit der litauischen Grenze bestritten: Im Grunde genommen hat Litauen damit seine eigenen Grenzen in Frage gestellt, wird seitens Moskau behauptet. Der ungehinderte Transit sei Bedingung dafür, dass Russland die Grenzen der ehemaligen Sowjetrepublik Litauen anerkenne! Russische Offizielle hatten deshalb bereits Gegenmaßnahmen angekündigt. So wurde der Ausschluss Litauens aus dem gemeinsamen Stromnetz vorgeschlagen. Es wurden auch russische Forderungen laut, einen „Korridor“, den Suwalki-Korridor, nach Kaliningrad zu erobern.
Wenn man nun so die Geschichte des Baltikums betrachtet, dann waren die Zugehörigkeiten über die Zeitläufte recht unterschiedlich. Im Hochmittelalter begann die Christianisierung und Unterwerfung Livlands durch die deutschen Ordensritter, die seit Anfang des 13. Jahrhunderts zunächst von Riga aus (Schwertbrüderorden) ins Baltikum vordrangen und bis um 1300 weite Gebiete unter ihre Herrschaft bringen konnten. Einzig Litauen und Samogitien (Später Teil von Litauen) blieben unabhängig. Im Spätmittelalter blieb Litauen unabhängig, da es mit Polen 1385 eine erste Allianz- und Vertrags-Union, die Union von Krewo vereinbarte, der weitere folgten und 1569 zur Gründung der Adelsrepublik vom Königreich Polen und Großfürstentum Litauen führten.
Im 18. Jahrhundert geriet das Baltikum durch den Großen Nordischen Krieg und die Polnischen Teilungen unter die Herrschaft des russischen Zarenreichs. Diese Herrschaft dauerte bis zum Ersten Weltkrieg, zwei polnisch-litauische Aufstände (Novemberaufstand 1830/31 und Januaraufstand 1863/64) wurden blutig niedergeschlagen. Im Gefolge des Friedensvertrages von Brest-Litowsk entstanden 1918 die unabhängigen Republiken Estland, Lettland und Litauen. Diese mussten sich allerdings umgehend gegen die Machtansprüche der Kommunisten (russische Rote Armee), der Monarchisten (russische Weiße Armee im Verbund mit den von Teilen des deutschen Adels unterstützten deutschen Freikorps) und der Polen zur Wehr setzen. Mit dem Abschluss dieser Bürgerkriegsphase bis 1920 verblieb ein Teil Litauens unter polnischer Hoheit. Im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 wurden Lettland und Estland als sowjetische Interessensphäre bezeichnet. Ihr wurde im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 auch Litauen zugeschlagen, wofür die Sowjetunion eine Vergrößerung des deutschen Besatzungsgebiets in Polen zugestand. Abgesichert durch rasch abgeschlossene Beistandsverträge besetzte die Rote Armee im Herbst 1939 Stützpunkte in Litauen, Estland und Lettland. Deutschland veranlasste 1940/41 die nahezu vollständige Umsiedlung der deutsch-baltischen Bevölkerung in das besetzte Polen (Warthegau, Westpreußen). Angesichts der sowjetischen Besatzung stimmten die im Sommer 1940 neugewählten Parlamente der baltischen Staaten der Eingliederung in die Sowjetunion gezwungenermaßen zu. Die Zwangseingliederung in die Sowjetunion aller drei Staaten erfolgte 1940. 1941 wurde das Gebiet von Truppen der deutschen Wehrmacht besetzt. Teile der Bevölkerung dienten in der deutschen Armee, andere in jener der Sowjetunion. Im Juli bzw. Oktober 1944 wurden die baltischen Republiken schließlich erneut von der Sowjetarmee besetzt und als Sozialistische Sowjetrepubliken der Sowjetunion einverleibt. In dieser Zeit wurden diese Länder, größtenteils gegen den Willen der Bevölkerung, in das sowjetische System integriert. Diese Zeit war gekennzeichnet von der sowjetischen Ansiedlungspolitik von Russen, wodurch die angestammten Bevölkerungen zu Minderheiten im eigenen Land gemacht werden sollten.
Am 23. August 1989 bildeten zwei Millionen Menschen den Baltischen Weg, eine Menschenkette über eine Länge von 600 Kilometern von Tallinn über Riga nach Vilnius, um für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten zu demonstrieren. Im Frühjahr 1990 erklärten die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit und deklarierten die Erneuerung der Vorkriegsverfassungen. Am 13. Januar 1991 gingen die promoskauischen und prokommunistischen politischen Kräfte zum Angriff über. Mit brutaler Gewalt wurde versucht, die rechtmäßig gewählte Macht zu stürzen.
Das Baltikum gehörte als einziges ehemals sowjetisches Territorium nie zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Am 1. Mai 2004 traten die baltischen Staaten der NATO und der EU bei. Für das Kaliningrader Gebiet und die Sonderwirtschaftszone Jantar im ehemals nördlichen Ostpreußen, das zu Lande von der EU angehörenden Gebieten eingeschlossen ist, gelten besondere Regelungen.
Die baltischen Staaten sind geopolitisch exponiert. Der Suwalki-Korridor stellt die einzige Landverbindung zum restlichen Bündnisgebiet zur NATO dar. Er verbindet Polen und Litauen, hier ist die Nato am verwundbarsten. Gleichzeitig trennt er die russische Exklave Kaliningrad und Belarus voneinander. Für das ganze Baltikum wichtige Straßen, Bahn- und Stromtrassen sowie eine Gas-Pipeline führen hier entlang.
In Kaliningrad (ehemals Königsberg) ist die russische Ostsee-Flotte stationiert, außerdem Flugabwehrsysteme und Iskander-Raketen, die man mit Atomsprengköpfen ausstatten kann. Sollte Russland eine „eiserne Glocke“ über die Region lege, könne die Nato dem Baltikum nur sehr schwer zur Hilfe kommen. Über Kaliningrad würde Russland versuchen, westliche Truppen zu binden und davon abzuhalten, dem Baltikum zur Hilfe zu kommen. Der Suwalki-Korridor ist für schweres Gerät nicht leicht zu passieren, umso bedeutender wären Truppenanlandungen über die Ostsee. Die Angst vor einer russischen Aggression ist in Estland, Lettland und Litauen deshalb besonders groß.
Der Ukraine-Krieg hat die Bedrohungslage im Baltikum verschärft.