Erdogan steht mit seiner islamisch-konservativen AKP bei den anstehenden Wahlen womöglich vor der größten Herausforderung in seinen zwei Jahrzehnten an der Spitze der Türkei. Umfragen deuten auf ein enges Rennen hin. Die regierende AKP dürfte demnach zwar wohl stärkste Kraft im Parlament bleiben. Aber in den Zustimmungswerten liegt Erdogan gegenüber einigen potenziellen Gegenkandidaten zurück.
Der türkische Präsident Erdogan zieht die türkischen Wahlen auf ein symbolträchtiges Datum 14. Mai 2023 vor. Die Wahlen hätten spätestens am 18. Juni stattfinden müssen. Am 14. Mai 1950 hatten nach der Einführung des Mehrparteiensystems die ersten freien Wahlen stattgefunden. In Umfragen war Erdogan zuletzt wieder im Aufwind.
Gegen wen Erdogan in der Präsidentenwahl antritt, ist auch noch offen. Sechs Oppositionsparteien, die sich zu einer Allianz zusammengeschlossen haben, wollen ihren gemeinsamen Kandidaten im Februar bekannt geben. Als wahrscheinliche Kandidaten gelten der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, Kemal Kilicdaroglu, oder der populäre Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu. Dieser wurde jedoch im Dezember 2022 wegen angeblicher Beamtenbeleidigung zu einer Haftstrafe und einem Politikverbot verurteilt, mit dessen Bestätigung durch den Kassationshof gerechnet wird.
Sollte die prokurdische HDP an ihrer Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan als drittem Kandidaten festhalten, würde der Präsident mutmaßlich erst in einer Stichwahl bestimmt werden. Als nicht ausgeschlossen gilt, dass die HDP nach Verhandlungen mit der Sechserallianz ihre Kandidatin noch zurückzieht. Denn die Chancen, Erdogan in der ersten Runde zu schlagen, gelten als größer, da es ihm zugetraut wird, in einer Stichwahl zu mobilisieren und mehr als 50 Prozent zu bekommen.
Nachdem Erdogan in den vergangenen zwei Jahren klar hinter seinen möglichen Herausforderern gelegen hatte, deuten aktuelle Meinungsumfragen wieder auf ein offenes Rennen hin. Erdogan nutzen seine internationalen Auftritte, etwa seine Vermittlungen zwischen Russland und der Ukraine, wo die Türkei eine Rolle beim Getreideabkommen und bei zwei Gefangenenaustauschen gespielt hatte. Ebenso bekommt er Zustimmung für seinen konfrontativen Umgang mit den NATO-Beitrittsanträgen von Schweden und Finnland. Zuvor hatte die erheblich verschlechterte wirtschaftliche Lage bei einer Inflation von über 80 Prozent und massiven Kaufkraftverlusten seine Popularität wesentlich geschmälert.
Umstritten ist indessen, ob Erdogan für eine weitere Amtszeit überhaupt antreten darf. Die Verfassung lässt höchstens zwei Amtszeiten des Präsidenten zu, außer wenn das Parlament mit einer Dreifünftelmehrheit, also 360 Mandaten, den Wahltermin vorzieht und damit die zweite Amtszeit als nicht abgeschlossen gilt. Dazu würde die Allianz von AKP und MHP, die nur über 335 Abgeordnete verfügt, jedoch Stimmen der Opposition benötigen, die einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments nicht zustimmen will.
Da Erdogan populärer ist als die AKP, wird nicht mit einer abermaligen Mehrheit von AKP und MHP im Parlament gerechnet, zumal es für die MHP schwierig werden wird, die Sperrklausel von sieben Prozent zu überwinden. Alle Meinungsumfragen sagen im Parlament eine Mehrheit der oppositionellen Sechserallianz zusammen mit der prokurdischen HDP voraus. Bei dieser Konstellation müsste ein Präsident, der zugleich faktisch Ministerpräsident ist, mit der Opposition in einer Kohabitation regieren.
In der Türkei bereitet derweil die regierende AK Partei ein Gesetz zur Umstrukturierung von Schulden vor. So sollen Bürger und Firmen künftig ihre Außenstände bei öffentlichen Einrichtungen wie Finanzämtern, Zollämtern, Sozialversicherungseinrichtungen und Gemeinden in Raten zahlen können, teilte Präsident Recep Tayyip Erdogan mit. Säumniszuschläge für Steuerzahlungen, Sozialversicherungsschulden und andere Verbindlichkeiten fielen weg.
Und Schweden macht es Erdogan leicht, bei seinen Anhängern zu punkten. Schweden will zusammen mit Finnland der NATO beitreten und Erdogan behindert (zusammen mit Ungarn) diesen Beitritt. Auch bei der NATO gilt das Einstimmigkeitsprinzip bei Abstimmungen über Neuanträge! Und Erdogan wäre der letzte Politiker, der im Wahlkampf eine Koranverbrennung ignoriert. Bei einer antitürkischen Demonstration in der schwedischen Hauptstadt Stockholm hat ein Teilnehmer eine Ausgabe des Korans verbrannt. Der Chef der rechtsextremen dänischen Partei Harte Linie, Rasmus Paludan, der auch die schwedische Staatsbürgerschaft besitzt, zündete den Koran nahe der türkischen Botschaft an. Empörung über die Aktion herrschte nun in vielen Teilen der islamischen Welt.
Auch andere Protestaktionen in Schweden hatten zuletzt Ärger mit der Türkei nach sich gezogen. Unter anderem hatten Aktivisten im Zentrum von Stockholm eine Erdogan ähnelnde Puppe an den Füßen aufgehängt, was eine wütende Reaktion aus Ankara zur Folge hatte.
Das NATO-Mitglied Türkei blockiert seit Monaten die Aufnahme Schwedens und Finnlands in das Verteidigungsbündnis. Die Türkei wirft vor allem Schweden unter anderem Unterstützung von „Terrororganisationen“, wie der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, vor und fordert die Auslieferung etlicher Personen, die Ankara als Terroristen betrachtet.
Die schwedische Regierung distanzierte sich von der Verbrennung ebenso wie von dem Vorfall mit der Erdogan-Puppe, verwies aber auf die in Schweden geltende Meinungsfreiheit. „Meinungsfreiheit ist ein grundlegender Bestandteil der Demokratie“, hatte Ministerpräsident Ulf Kristersson mitgeteilt. „Aber was legal ist, ist nicht unbedingt angemessen. Das Verbrennen von Büchern, die vielen heilig sind, ist eine zutiefst respektlose Handlung.“ Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wies darauf hin, dass Meinungsfreiheit ein hohes Gut sei.
Finnland könnte sich nun gezwungen sehen, einen NATO-Beitritt ohne seinen langjährigen Verbündeten Schweden in Betracht zu ziehen. Natürlich sei es mit Blick auf die Sicherheit der beiden Länder nach wie vor die absolut erste Option, weiter gemeinsam voranzukommen.
Wahrscheinlich wird es erst nach der Wahl in der Türkei möglich sein, den Betritt Schwedens zur NATO (mit Billigung der Türkei) durchzubringen.