Die „Politik“ ist eigentlich das von einem (in der Regel als Ganzes betrachteten) Staat praktizierte Verhältnis zu seinen Staatsbürgern, Parteien, Gruppierungen, Wirtschaftseinheiten usw. im Inneren, und zu den anderen Staaten, den internationalen Organisationen u. ä. im außenpolitischen Verhältnis. Diese Politik wird i. d. R. von den herrschenden Kräften (Parteien, Gruppen, Lobbyisten, Wirtschafts-Multis, in anderen Staaten auch von herrschenden Clans, Stämmen etc.) festgelegt und realisiert. „Justiz“ ist allgemein das Rechtswesen in einem Staat und sollte in einer Demokratie von der Politik nicht beeinflusst werden. Das geht aber eigentlich nur in der Theorie, denn Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte usw. sind immer „Kinder“ der vorherrschenden politischen Verhältnisse und setzen Rechtsnormen durch, die die herrschenden Kreise erlassen und initiiert haben. Tatsache ist aber doch, dass die Justiz eine gewisse Distanz zur Politik wahren muss. Wenn die Justiz ihre Eigenständigkeit verliert, dann verliert sie ihre Grundlage als dritte Säule im Rechtsstaat.
Ich habe den Eindruck, dass die Justiz verstärkt „Politik“ macht (ob sie es nun will oder nicht, bzw. dazu veranlasst wird). Ich weise nur auf die Situation in Österreich hin, als der Oberste Gerichtshof eine Wahlwiederholung einer Präsidentenstichwahl angeordnet hat.
Alle Demokratien benötigen Gerichte und Richter, die achten, dass Gesetze eingehalten werden, dass der Verfassung entsprechend gehandelt wird, und die die Exekutive überprüfen. Aber im heurigen Jahr gab es eine Reihe von Vorkommnissen, als die Gerichtshöfe behindert oder bedroht wurden, um die Demokratien, die sie beschützen sollen, zu unterlaufen.
Kürzlich war es Polen: das Land wurde von Protesten erschüttert, als die Regierung versuchte, die nationalen Gerichtshöfe zu reorganisieren. Die rechtsorientierte Regierungsspitze sah in der Justiz eine liberale Behinderung ihrer Regierungsarbeit und drängte darauf, dass die Regierung mehr Einfluss auf die Ernennung der Richter haben solle. Sowohl im Land selbst als auch im Ausland (und der EU) sah man das als einen Schritt in die Richtung eines autoritären Staates. Die breite interne Opposition und die Aussicht auf ausländische Kontrolle haben diesen Schritt noch vorläufig behindert.
Um den Verlust der Unabhängigkeit der Gerichte zu studieren, sollte man nach Pakistan blicken. Kürzlich hat das pakistanische Höchstgericht den gewählten Ministerpräsidenten, Nawaz Sharif, abgesetzt. Die Richter fanden, dass Sharif für das Regierungsamt nicht mehr geeignet wäre, weil er das Vermögen seiner Familie nicht bekannt gegeben hätte. Sein politischer Rivale Imran Khan rühmte diese Entscheidung als eine neue Ära in der pakistanischen Geschichte, in der es nicht mehr zweierlei Gesetze für die Armen einerseits und die Reichen und Mächtigen andererseits geben würde. Aber Achtung: Khan hatte die Anklagepunkte gegen Sharif vorgebracht und hoffte, Sharif bei den nächsten Wahlen zu ersetzen.
Andere sind nicht so überzeugt. Seit der Gründung von Pakistan vor 70 Jahren hat kein Premierminister sein Amt bis zu Ende der Legislaturperiode durchgeführt. Es gab immer wieder Zyklen politischer Instabilität und anmaßenden Einfluss des immer wieder „hineinpfuschenden“ Militärs, das man sicher nicht als neutrale Partei sehen darf. Es sollte nicht vergessen werden, dass der Oberste Gerichtshof drei militärische Putsche 1958, 1977 und 1999 legalisiert hat.
Diejenigen, die Sharif unterstützen, sehen ihn als ein Opfer antidemokratischer Kräfte, unterstützt von der hohen Gerichtsbarkeit. Andere finden wieder, dass seine Absetzung ein Urteil gegen die Straffreiheit der mächtigen politzischen Clans in Pakistan wäre. Das Land ist gespalten.
Tausende Kilometer davon entfernt, gibt es ein weiteres Beispiel, Venezuela, dessen Institutionen das Volk nicht mehr traut. Zwischen politischer Krise und wirtschaftlichem Zusammenbruch hat der amtsführende Präsident, Nicolas Maduro, eine Wahl zu einer verfassungsgebenden Versammlung durchführen lassen. Dieser Schritt hat das Land weiter gespalten, die demokratische Ordnung geschwächt und die tiefe Krise, von der Venezuela seit vielen Monaten erschüttert wird, weiter verschärft. Die Wahl der Delegierten war weder frei, noch geheim, noch gleich und verstieß damit gegen demokratische Grundprinzipien. Die umstrittene Wahl wurde von zahlreichen Todesfällen überschattet. Das Land mit den größten Ölreserven der Welt steht am Rande des Ruins, Menschen hungern, es fehlt an Lebensmitteln und Medikamenten. Maduro gibt dem gefallenen Ölpreis die Schuld. Um seine Stellung zu festigen – bei den Unruhen starben seit April mindestens 123 Menschen – hatte er eine Verfassungsreform vorgeschlagen; obwohl die bisherige von seinem Mentor und Vorgänger Hugo Chávez stammt. Es gehe um eine „ruhige Zukunft“, um Frieden für Venezuela, meinte Maduro.
Die Vereinigten Staaten drohen mit Wirtschaftssanktionen, sie sind einer der größten Abnehmer des Öls. Auch die EU will das Votum nicht anerkennen, auch Argentinien, Peru, Chile, Brasilien und Kolumbien nannten die Wahl „illegal“. Befürchtet wird eine weitere Verschlimmerung der Lage, Zehntausende sind bereits nach Kolumbien und Brasilien geflohen.
Auch das Parlament, das eine Mehrheit der Opposition aufweist, hat 33 Beamte (Richter) ausgewählt, um den gesamten Obersten Gerichtshof zu ersetzen. Nun besteht Aussicht auf zwei unterschiedliche – rivalisierende Oberste Gerichtshöfe in einem Land, das sich langsam aufzulösen droht. Zwei von den 33 Ernannten wurden bereits verhaftet. Und die Gerichte unterstehen dem Regime.
Das sind aber nur wenige Beispiele, wo die Gerichte de Politik und die Politik die Gerichte beeinflusst, Opfer von dieser Situation sind meist die Menschen in den betroffenen Ländern.
Auch die „Säuberungen“ des türkischen Präsidenten Erdogan nehmen kein Ende. Zehntausende wurden inzwischen entlassen oder festgenommen. Die Türkei gehört zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. Medien wurden geschlossen, Presseausweise annulliert.
Wenn die Justiz bedroht ist, kommt es zu einer Spaltung des Landes, oder kommt es aufgrund einer Spaltung zur Bedrohung der Justiz?