JULIANE, EINE PIONIERIN UND IHRE ERDÄPFELPUFFER

christachorherr

eine Wiederveröffentlichung aus Anlass ihres heutigen 17. Dezember Geburtstages 1882

Meine Generation hatte nicht das Glück, 2 vollständige Großelternpaare zu haben, wie das heute für viele Kinder und Halbwüchsige selbstverständlich ist. Sowohl mein Großvater väterlicherseits als auch meine Großmutter mütterlicherseits waren schon tot, als ich auf die Welt kam. Meinen Großvater mütterlicherseits kannte ich noch, habe aber keine „besondere Beziehung“ zu ihm gehabt, weiß daher auch nicht so viel zu ihm – außer, dass er Virginia rauchte und gerne ein Glaserl Wein schon am Vormittag trank und Semmelknödel zu jeder Mahlzeit für ihn erforderlich waren. Er starb, als ich 7 Jahre alt war.

Um meine Großmama väterlicherseits soll es heute gehen. Leider ist auch sie sehr früh gestorben, als ich gerade 11 Jahre alt war, dennoch habe ich eine sehr lebhafte Erinnerung an sie.

Sie wurde 1882 geboren, Österreich war noch eine Monarchie, Kaiser Franz Joseph I. regierte schon seit 1848, aber er entgeht bei einem Besuch von Triest 1882 einem Bombenattentat. Zwei Zuschauer sterben. Richard Wagners Parzifal hat seine Uraufführung, am Theater an der Wien in Wien findet die Uraufführung der Operette Der Bettelstudent von Karl Millöcker statt. Dieses Stück wird zu einer der beliebtesten deutschsprachigen Operetten. Auf dem mittleren Turm des Wiener Rathauses wird der Rathausmann aufgesetzt, eine 1,8 Tonnen schwere Ritterfigur.

Über die Kindheit meiner Großmama -Juliane Sageder – weiß ich eigentlich nichts. Sie heiratete sehr früh, mit 18 Jahren, einen Wiener Fuhrunternehmer, der in Klosterneuburg seinen Fuhrpark stehen hatte. Seine Vorfahren stammten aus Südtirol, aus einem Ort namens Tschengls-Hinterburg im Vintschgau. Wie das damals so üblich war, bekam meine Großmama umgehend 5 Kinder, drei Söhne, Franz, Hans und Alois (meinen Vater) und zwei später recht kapriziöse Töchter, Gerti und Maria, die beide von einem (reichen) Märchenprinzen träumten. Dieser Traum realisiert sich für keine der beiden.

Meiner Großmama gefiel ihr Leben eigentlich nicht, da das Geld in diesem Haushalt immer sehr knapp war. Kurz entschlossen verließ sie ihren Mann – das muss so um 1910 gewesen sein. Die Töchter kamen zur Großmutter (Christine) nach Schärding, wo sie bei den „Englischen Fräulein“ erzogen wurden. Die Congregatio Jesu (CJ) ist ein Frauenorden mit dem ursprünglichen Zweck der Mädchenbildung, 1609 gegründet, gemeinhin wurde der Orden jedoch als Englische Fräulein bezeichnet. Ich nehme an, dass es sich um das Kloster in Neuhaus am Inn gehandelt hat. Aus Erzählungen weiß ich nur, dass viel Wert auf gutes und richtige Benehmen  bei der Erziehung durch die „Englischen Fräulein“ gelegt wurde. Meine Tante Maria hat versucht, mir dieses Wissen zu tradieren. Vergeblich!

Worin die Ausbildung meiner beiden Onkel, Franz und Hans, bestand ist mir unbekannt, ich weiß nur, dass mein Vater eine Hotelfachschule besuchte, die er mit Vorzug als Klassenbester abschloss. Meine Großmama musste schließlich arbeiten, um die Familie zu erhalten, ich kann mir nicht vorstellen, dass mein verlassener Großvater Alimente bezahlte. Jedenfalls weiß ich, dass sie als Sitzkassierin im Cafe Central angestellt war. Ob das ihr erster und einziger Job war, weiß ich auch nicht, aber das Cafe Central war sicher einer der kulturell interessantesten Orte in der Monarchie. Dort im Ferstelpalais  verkehrten unter anderem Peter Altenberg,Alfred Adler, Sigmund Freud,Egon Friedell, Hugo von Hofmannsthal Anton Kuh, Adolf Loos, Leo Perutz und Alfred Polgar.  . Ebenso zählten die Schriftsteller Arthur Schnitzler, Franz Kafka, Robert Musil und Stefan Zweig zu häufigen Gästen. Zur Unterhaltung lagen 250 Zeitungen in 22 Sprachen auf. Der Schriftsteller Alfred Polgar schrieb in Die Theorie des Café Central: „Das Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung […] Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindlichkeit so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen […] Die Gäste des Central kennen, lieben und gering schätzen einander […] Es gibt Schaffende, denen nur im Central nichts einfällt, überall anderswo weit weniger […].“

Ob damals schon mein Stiefgroßvater Siegfried Hulles in das Leben meiner Großmama getreten war, ob sie ihn vielleicht im Cafe Central kennengelernt hatte, ist mir nicht bekannt. Heiraten konnte sie ihn jedenfalls erst, nachdem mein Großvater in den dreißiger Jahren gestorben war.

Als ich meine Großmama „wahrnahm“, lebten wir beide in der Harmoniegasse, sie auf Nummer 7 (gibt es jetzt nicht mehr – daraus wurde ein Hotel, erst Westminster später Harmonie genannt) und wir – meine Eltern und ich – auf Nummer 3. Ich fand meine Großmama von Anfang an großartig, zwischen meiner Mutter und ihr bestand ein gespanntes Schwiegermutter-Schwiegertochter Verhältnis. Soweit ich das abschätzen konnte, ging es um den Einfluss auf meinen Vater.

Das Leben meiner Großeltern wurde unter der Nazizeit sehr hart. Dennoch gab es immer etwas zu essen für mich bei ihr, ich schätzte besonders ihre Erdäpfelpuffer! Mein Stiefgroßvater war Jude, er musste den Judenstern tragen, er bekam keine Lebensmittelmarken und nur weil mein Onkel Hans und mein Vater für ihn „bürgten“, wurde er nicht deportiert. Meine tapfere Großmama „brachte ihn durch“. Sie erzählte höchst freimütig jeden Hitlerwitz, den sie gehört hatte. Sie war schon immer eine begnadete „Händlerin“ und half sich und anderen jüdischen Familien beim Verkauf oder Tausch ihrer „Antiquitäten“. Meine Großeltern hatten auch Glück, dass kein Bombenangriff auf die Harmoniegasse erfolgt war, da mein Großvater als Jude ja nicht in den Luftschutzkeller gehen durfte. Er durfte auch keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.

Nach dem Krieg war die Versorgungslage nicht viel besser. Meine Großmama wartete auf die Rückkehr ihrer Tochter Maria, die in England interniert gewesen war. Ihre Tochter Gerti lebte bereits im Haushalt ihrer Mutter mit 2 Kindern als Witwe. Im Sommer 1946 fuhr meine Großmama zur Erholung in den Knappenhof bei Reichenau, dort ist sie beim Blumenpflücken tot umgefallen, sie war gerade 64 Jahre alt geworden.

JULIANE, EINE PIONIERIN UND IHRE ERDÄPFELPUFFER

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