Ein wenig zur Toleranz

Über die ich bei verschiedenen Anlässen nachgedacht habe

Ich fürchte, wir (oder wohl viele von uns) haben verlernt tolerant zu sein. Toleranz bezeichnet als philosophischer und sozialethischer Begriff ein Gewährenlassen und Geltenlassen anderer oder fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten. Umgangssprachlich meint man damit häufig auch die Anerkennung einer Gleichberechtigung.

Ich habe den Eindruck, wenn ich mir so Talk-Shows anschaue, oder in den sozialen Medien lese, dass wir dem Gegenüber gar nicht freundlich oder tolerant entgegenkommen. Ich meine schon, dass Widersprechen manchen Standpunkten noch lange nicht intolerant sein muss. Aber wenigstens zuhören sollte man dem Gegenüber, nicht nur lauern, selbst wieder mit seiner Meinung zu Wort zu kommen, ohne auf den Vorredner einzugehen (oder zumindest seine Aussage reflektiert zu haben).

Im politischen und gesellschaftlichen Bereich gilt Toleranz auch als die Antwort einer geschlossenen Gesellschaft und ihres verbindlichen Wertesystems gegenüber Minderheiten mit abweichenden Überzeugungen, die sich in das herrschende System nicht ohne weiteres integrieren lassen. (Kommt mir da nicht gleich das leidige Leitkulturproblem in den Sinn?)  Diese Situation leben wir ja schon seit geraumer Zeit im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation.  Insofern schützt die Toleranz ein bestehendes System, da fremde Auffassungen zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht zwangsläufig übernommen werden. Die Toleranz schützt aber auch die Träger einer Minderheitsmeinung vor Repression und gilt insofern als eine Grundbedingung für Humanität. In diesen Zusammenhängen ist Toleranz auch die Vorbedingung einer friedlichen, theoretischen, Auseinandersetzung um konkurrierende Wahrheitsansprüche. Der von Herbert Marcuse geprägte Begriff repressive Toleranz kritisiert insbesondere, dass in einer Gesellschaft mit unklarem Wertepluralismus, in der Toleranz als Norm gilt, rationale und berechtigte Kritik wirkungslos bleiben kann. Kommt mir auch bekannt vor!

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Toleranz auf ethische Indifferenz, also auf eine Verringerung des Bewusstseins für Gut und Böse hinweisen kann. Vielleicht könnte man Toleranz auch als unvollkommene Tugend bezeichnen, weil man etwas zulässt, was man eigentlich als schlecht erachtet.

In der Philosophie ist das Problem der Toleranz mit der Frage nach Wahrheit und Freiheit verbunden: Gibt es „die Wahrheit“ im Besitz von Einzelnen oder Gruppen und wie verhält es sich mit Freiheit gegenüber dem als „Wahrheit“ Angesehenen?  Mit diesem Problem sind wir als Einzelne, aber auch als z.B. Gruppen (Staaten) unentwegt konfrontiert.

Aber dieses Problem beschäftigt die Menschheit schon lange. In der Geistesgeschichte des europäischen Kulturraums entstand die Toleranzidee aus der praktischen Notwendigkeit des Staates, das gesellschaftliche Zusammenleben zu ermöglichen, indem abweichende religiöse Bekenntnisse integriert wurden. Wesentliche Überlegungen betreffen das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen, seit der Reformation auch das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen christlichen Konfessionen.

Im Römischen Reich wurden die Religionen unterworfener Völker toleriert, sofern sie die göttliche Verehrung des Kaisers als einigendes Band des Staates akzeptierten. Da Christen dies nicht taten, galt ihnen gegenüber keine Toleranz. Erst das Toleranzedikt des Galerius im Jahr 311 beendete die Christenverfolgungen.

Das christliche Mittelalter unterschied zwischen „Ungläubigen“ (Juden und Heiden) sowie Häretikern. Nur erstere wurden toleriert, da der Zugang zum Glauben nicht erzwungen werden dürfe. So gebot Papst Gregor der Große im Jahr 602 Toleranz für die Juden. Häretiker hingegen waren zu verfolgen, da sie von der bereits erkannten Wahrheit wieder abgefallen waren.

Anfang des 16. Jahrhunderts setzten im westlichen Kulturkreis der Humanismus und vor allem die Reformation eine Entwicklung in Gang, die zur Entstehung der neuzeitlichen Toleranzidee und ihrer Verwirklichung führte. Ein weltweiter Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung hat im 15. Jahrhundert eingesetzt. Er ist von Martin Luther und der reformatorischen Bewegung vorangetrieben worden.

Die über die bloße Toleranz („Duldung“) hinausgehende Religionsfreiheit setzt eine Differenzierung von Kirche und Staat voraus sowie einen gesellschaftlichen Pluralismus und ist daher der Neuzeit vorbehalten. Entscheidend wurde die Proklamation der Religionsfreiheit im Rahmen der Menschenrechte in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776), Verfassung und Bill of Rights. Im Zeitalter der Aufklärung wird die Toleranzidee zur Forderung einer Duldung aller Konfessionen, der Bedeutungsbereich des Toleranzbegriffs wird auch über das Religiöse hinaus erweitert, auf eine allgemeine Duldung anders Denkender und Handelnder (Nathan der Weise).  Goethe z.B. forderte: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Mir fällt dazu das Thema Integration oder Assimilation ein.

In dem Zusammenhang soll auch das Toleranz-Paradoxon nicht vergessen werden. Es wird wirksam, wenn eine tolerante Macht aufgrund ihrer Toleranz intoleranten Kräften erlaubt oder ermöglicht, die eigene Toleranz einzuschränken oder abzuschaffen. Auch das leben wir alle Tage!

Das ist ein (ungelöstes) Problem, das unsere derzeitige Situation innewohnt.

Ein wenig zur Toleranz

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